Vinschgau: Tag der Romanik

Der Vinschgau ist ein Schatzkästchen

So vieles zieht uns immer wieder dorthin: die Landschaft, karg und üppig zugleich; das Wetter natürlich, meistens scheint die Sonne, oder es ist wenigstens nicht unerträglich schlecht; die Orte, alt und doch irgendwie modern; Berge, in denen man so schön wandern kann; die Waale, wenn einem nach Wasserplätschern als Begleiter zumute ist; das Essen die Menschen, herzlich, freundlich, noch nicht genervt vom Massentourismus; und – nicht zuletzt – die kleinen, feinen kunsthistorischen Schmankerln.

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Damit meine ich vor allem die romanischen Kirchlein. Viele sind die meiste Zeit zugesperrt und werden nur zu besonderen Anlässen geöffnet, wie zum „Tag der Romanik“, an dem sich auch das angrenzende Münstertal (Val Müstair) in der Schweiz beteiligt.

11. Oktober 2014

Der Tag der Romanik findet immer im Oktober statt. Dann werden viele der alten Kirchen geöffnet und Führungen angeboten – jedes Jahr ein Muss!

Wir haben wir uns heuer eine Führung in der Gemeinde Latsch ausgesucht. Führungen sind immer besonders schön, denn sie werden von Einheimischen gehalten, die nicht nur kunstgeschichtlich und historisch sehr bewandert sind, sondern oft auch persönliche Erinnerungen und Erlebnisse erzählen.
Die Marktgemeinde Latsch liegt unterhalb von Schlanders im mittleren Vinschgau. Der Ort ist vor allem bekannt für den spätgotischen Flügelaltar in der Spitalkirche, das berühmteste Werk von Jörg Lederer. Aber die Gotik lassen wir heute links liegen – bis auf eine Ausnahme.

St. Nikolaus, die erste Station, ist eine kleine, gedrungene Kirche mit einem kurzen, dicken Turm an der Hauptstraße. Sie wurde vermutlich vor 1200 errichtet und 1326 erstmals erwähnt. Schon im Barock hat man sie als Feuerwehrhaus und Abstellraum für Wegmacher missbraucht; nach 1930 wurde sie wohl ganz zugesperrt. Das traurige Schicksal sieht man dem Kirchlein an, tiefe Risse durchziehen das Mauerwerk; sie wirkt, als sei sie dem Verfall preisgegeben. Gegen diesen Eindruck hilft auch das von einem zeitgenössischen Künstler gestalten Fenster nicht –der depressive Ausdruck seines Nikolaus‘ spricht Bände.
Freskenrelikte an der Außenwand zeigen eine Kreuzabnahme, Chistophorus und einen fröhlichen, milden Nikolaus; der wusste halt damals noch nicht, welche Zukunft dem ihm geweihten Kirchlein bevorstehen würde.

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Die nächste Station ist St. Stephan in Obermontani. Zunächst fallen die beiden Burgruinen auf dem Felsrücken am Eingang ins Martelltal auf. Burg Obermontani ist wohl vor 1228 errichtet worden und hat ein lebhaftes Schicksal hinter sich: häufig wechselnde Besitzer, aufgerieben in den Zwistigkeiten zwischen Chur und Tirol bzw. diversen Adelshäusern – bis sie schließlich im 19. Jh. an einen Bauern verkauft wurde, dessen Familie die Mobilien veräußerte und die Burg verfallen ließ. Auch eine kostbare Bibliothek wurde verschleudert, und so gelangte die zweitälteste Nibelungenhandschrift (1323) nach Berlin.

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Untermontani ist ca. 50 Jahre jünger und schon seit dem 17. Jh. Ruine.
Die Kirche unterhalb von Obermontani steht hart am Abgrund zum Tal des Flüsschens Plima.

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Das Auto lässt man entweder unten stehen und läuft ein paar Minuten hinauf. Bei der Ruine Obermontani gibt es auch einen kleinen Parkplatz. Man muss noch ein paar Schritte an der Ruine vorbei laufen und hat dabei atemberaubende Blicke ins Tal. Als unsere Führerin erzählt, dass sie als Kinder immer vom Tal aus hinaufgeklettert und nach dem Spielen in der Burg den Hang – den Steilhang! – hinuntergekullert sind, gruselt uns noch Jahrzehnte später.
Der erste Bau der Kapelle wurde im 15. Jh. erneuert und 1487 neu geweiht. Sie ist also nicht romanisch, sondern spätgotisch – aber auch am Tag der Romanik ein Muss! Denn sie beherbergt ganz außergewöhnliche, bestens erhaltene Fresken aus dem 15. Jh., mit denen die Kapelle komplett ausgemalt ist. Lombardische, schwäbische und bayerische Werkstätten haben hier gearbeitet, zu verschiedenen Zeiten. Themen sind u. a. die Stephanuslegende, die Passionsgeschichte und das Jüngste Gericht.
Leider ist Fotografieren verboten, aber um Euch einen Eindruck zu geben, zeige ich hier ein Foto aus der Broschüre über die Kapelle abbilde (Leo Andergassen, Montani, Regensburg 2011).

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Interessant sind auch die zahlreichen Graffiti auf den Fresken, die ältesten datieren in die zweite Hälfte des 15. Jh.s. Geistliche und Adelige waren damals auch nicht besser waren als die heutigen Touristen!
Spätgotische Gegenstände, z. B. ein Flügelaltar oder fünf bemalte Holztafeln von der Decke befinden sich im Stadtmuseum Bozen, einen Nothelferaltar von etwa 1522 hat es bis nach Budapest verschlagen.

Die St. Vigilius- und Blasiuskapelle in Morter ist die nächste Station. Morter ist ein kleiner Ort in der Fraktion Latsch, inmitten von Apfelplantagen gelegen. Der Name kommt vermutlich vom italienischen „Mortario“ = Mörtelmachen = Kalkbrennen.
Der Weg vom Parkplatz führt am Meierhof vorbei, der nur ein paar Jahrhunderte jünger ist als die Kapelle. Riesige Quitten hängen im Obstgarten, alles ist voller bunter Herbstblumen, und ich lerne – sozusagen im Vorbeigehen – vom Bauern, dass die winzigen, langstieligen Äpfelchen (ein wilder Zwergapfel, Malus pumila) zum Bestäuben der sterilen Zuchtsorten dienen.

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Über das Alter der Kirche gab es viele Diskussionen. Lange hielt man eine Inschrift in ihr, die die Weihe auf 1080 datiert, für falsch. Zum einen, weil der Bischof von Trient sie geweiht hat, mit Zustimmung des eigentlich zuständigen Bischofs von Chur. Beide hießen Heinrich, und dann gab es noch zwei Heinriche in Chur (einer bis 1078 und einer ab 1180) – das hat lange Verwirrung zu der Annahme einer Gründung 100 Jahre später geführt. Außerdem wird die architektonisch sehr ähnliche Heiligkreuzkapelle von Müstair als Vorbild angesehen. Und auch von ihr vermutete man, dass sie erst 1180 erbaut worden ist. Jetzt, seit man an deenr Restaurierung arbeitet, weiß man definitiv, dass sie spätkarolingischen Ursprungs und somit älter ist als St. Vigilius; man kann also weiterhin der Inschrift in Morter Glauben schenken. Komplizierte Geschichten liefern sich Historiker und Kunsthistoriker!
Lange Rede, kleine Kirche! Weitere Unika: Die Heiligen, denen sie gewidmet ist, werden im Vinschgau üblicherweise nicht verehrt. Und einzigartig in der Region ist der romanische Grundriss mit den drei muschelförmigen Apsiden.
Mir gefallen besonders gut die bäuerlich-einfachen Zeugnisse aus späteren Zeiten: Gemälde auf Holztafeln von den Bauernheiligen Zita, Notburga, Isidor und Wendelin und ein kleiner bunter Altar.

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Zita kam 1224 als Magd nach Lucca, wo sie 48 Jahre diente. Sie ist in Lucca beerdigt und wird als Wohltäterin der Armen verehrt.

Karpophorus-Kirche in Tarsch

Wer war denn bloß der Schutzheilige unserer nächsten Station? Carpophorus bedeutet „der Fruchttragende“ (was für ein schönes Wort!); er war wohl Priester oder Arzt und wurde um 300 erschlagen. Ein weiteres Stück in der Sammlung ungewöhnlicher Heiliger, die man nicht kennt, als da sind Prokolus, Sisinius, Ägydius, Dionysius, Medardus oder auch Veit, der einem zumindest als Heiliger eher selten begegnet.
In Tarsch hat man dem Karpophorus eine Kirche am östlichen Dorfrand gewidmet; sie war im Mittelalter auch ein Pilgerhospiz. Immer wenn wir uns in der Autoschlange die Bundestraße zwischen Reschen und Meran hinauf- oder hinunterbewegen, stellt man sich das Etschtal einsam und leer vor, höchstens ein paar Pferde, Sänfte und Wanderer auf dem Weg. Dem war aber keineswegs so, der Vinschgau besaß mit der Via Claudia Augusta eine rege frequentierte Handels-und Pilgerstraße über die Alpen bzw. nach Rom. Davon zeugen auch die vielen Hospize in Tagesmarsch-Entfernung. Tarsch allein hatte drei.
Zurück zur Romanik. Nur noch der Turm dürfte uns heute interessieren; er ist durch Rundbogenfriese und Zahnfriese gegliedert und zählt zu den schönsten romanischen Exemplaren im Vinschgau. 1214 wurde die Kirche vom Stauferkaiser Friedrich II. dem Deutschen Orden geschenkt, dem sie bis heute gehört. Ausgrabungen, die 1987 bei Bodenarbeiten gemacht wurden, belegen allerdings einen Vorgängerbau aus dem 7. oder 8. Jh.

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Wie so viele Kirchlein hier ist sie von einer mannshohen Mauer umgeben. (Aber nur St. Veit am Tartscher Bühel war auch Freistatt.) Das Gotteshaus ist außen gotisch, innen von einem leichten Durcheinander durch die Jahrhunderte geprägt.

Die letzte Etappe ist dann Unsere Liebe Frau am Bühel in Latsch. „Bichlkirche“ nennen die Latscher sie oder „Fieberkirchl“, wegen der Malaria, die im 15. Jh. den Vinschgau heimgesucht hat. In dieser Zeit wurde die heutige Kirche erbaut, „mit Hilfe der Gläubigen“, wie die Führerin betont – im Gegensatz zur Stiftung durch einen geistlichen oder adeligen Herrn. Eine erste Kirche wird 1020 angenommen, aus der Zeit ist nur noch der untere Teil des Turms. Ansonsten prägen Gotik und Barock das Bauwerk, die Innenausstattung stammt sogar erst aus dem 17. und 18. Jh.
Auf dem Programm steht die Kirche vermutlich wegen des marmornen Figurenmenhirs, der 1992 als Altarmensa entdeckt wurde und gut 5.000 Jahre alt ist. Einritzungen im Stein symbolisieren auf der Vorderseite Äxte, eine Keule, Figuren und andere Gegenstände, auf der Rückseite den fransigen Mantel eines Mannes. Der Kopf fehlt.
Genauso wenig romanisch, aber bezaubernd ist der Osteraltar, der vor dem barocken Hauptaltar steht: bunt, mit farbigen Glühlämpchen, Säulen, die an Jugendstil oder Art Déco erinnern und voll naiver Religiösität.

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Mindestens im Alpenraum war es über Jahrhunderte Brauch, in der Karwoche einen Osteraltar als Symbol des Heiligen Grabes vor den eigentlichen Altar zu stellen. In Süddeutschland zierte man ihn seit dem 12. Jh. mit bunten venezianischen Glaskugeln und Öllämpchen und schuf so eine geheimnisvolle Atmosphäre. In der Aufklärung wurden diese Altäre verboten und verbannt. Mit Glück findet man in der einen oder anderen Gemeinde noch ein Exemplar auf dem Speicher und stellt es wieder auf. So wie in Tarsch.

Damit ist die Führung beendet. Mittlerweile ist es 13:30, und wir müssen haxeln, um eine Kleinigkeit zwischen die Zähne zu bekommen und pünktlich um 15:00 im Kloster Marienberg zu sein. Marienberg ist das imposante, strahlend weiße Kloster im grünen Wald, einer der ersten Eindrücke vom Vinschgau, wenn man vom Reschenpass die Malser Haide hinunterrollt, oberhalb Burgeis gelegen. Noch vor ein paar Jahren waren die zwei Windräder an der ersten Serpentine der Eyecatcher, die wurden aber im Herbst 2012 abgebaut.

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Hier kann heute die Krypta besichtigt werden. Das ist selten der Fall, meistens wird sie nur für die samstägliche Vesper der Mönche geöffnet – und daran kann man ja schlecht nur aus Neugier teilnehmen. Wir kennen sie schon, aber sie ist so wunderbar, dass wir sie gar nicht oft genug sehen können!
Querhaus und Apsis der am Hang gelegenen Stiftskirche wurden auf der Krypa errichtet . Eine Weihe um 1160 scheint gesichert, in dieser Zeit oder bald danach sind wohl auch die herrlichen Fresken entstanden, vermutlich durch einen Künstler aus Ottobeuren, dem Mutterkloster.

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Teile der Krypta wurden im Barock durch Trennwände und Grüfte zugebaut und sind erst Ende des 19. Jh.s wieder freigelegt worden, der Westteil sogar erst 1983. So sind die Fresken nie übertüncht worden, wie das so vielen alten Malereien passiert ist, sondern im Originalzustand belassen. 300 Jahre hat sie niemand gesehen und niemand berührt! Wunderbare Farben im herrlichen, kostbaren Lapislazuli-Ultramarin und feinste Maltechnik gibt es da zu bewundern. Man kann sie nur bestaunen und sich freuen, an der Farbenfracht, an den hinreißenden Körperhaltungen der Engel – man kann aber auch dem Führer folgen und sich in Zahlen- und Formsymbolik sowie die Mystik der Hildegard von Bingen vertiefen.

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Auch hier ist das Fotografieren verboten, so dass ich wenigstens zwei Postkarten abfotografiert habe.

Nicht mehr im Programm steht das kleine St. Stephan, ((Fotos Juli 09)) aber es liegt nur ein paar hundert Meter weiter an der Straße nach Schlinig bzw. zum Watles und gehört untrennbar zu Marienberg. Aufgrund archäologischer Grabungen kann man auf einen Vorgängerbau aus 5. Jh. schließen. Seine heutige Gestalt erhielt es vermutlich im 9./10. Jh. Als das Kloster 1146 vom Unterengadin in den Vinschgau umziehen musste, siedelte man sich erst hier an, zog aber ein paar Jahre weiter an den heutigen Platz. Alles, was die Kirche mal geschmückt hat, ist heute im Museum von Marienberg oder in Bozen deponiert. Ich mag das trutzige Kirchlein, seinen kleinen Friedhof mit dem raffinierten Schloss an der Metalltür, den Blick auf die Malser Haide und die Gänse, die am Weiher nebenan wohnen.

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Ein köstliches Abendessen beim „Greif“ in Mals haben wir uns zum Abschluss dieses Tages wirklich verdient! Und zum Schlafengehen einen romantischen Blick aus dem Zimmer unserer Pension in Burgeis aufs nächtliche Kloster.

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